Atheismus führt zum Massenmord
Das Argument, Hitler und Stalin seien Atheisten gewesen, wird gerne von christlichen Propagandisten als Beleg angeführt, dass die Menschheit das Christentum als moralische Grundlage benötige.
Nun, Hitler war Katholik und Stalin mag zwar Atheist gewesen sein, er hat aber keine Menschen für den Atheismus getötet – anders als manche Kreuzzügler und religiösen Terroristen: So jedenfalls wird es gerne in den Diskussionsforen transportiert.
Hinsichtlich beider Personen ist dies meines Erachtens zu einfach. Gerade bei Lenin und Stalin haben die weltanschaulichen Komponenten durchaus eine Rolle gespielt, und zwar der „dialektische Materialismus“ und Determinismus:
So war in der Sowjetunion der dialektische Materialismus Staatsdoktrin, Religion hingegen Opium des Volkes (Marx). Unter „dialektischem Materialismus“ verstand man schon zu Lenins Zeiten nicht ein starres Festhalten an der Materie, sondern es handelte sich dem Grunde nach um eine naturalistische Weltanschauung, die für neue Erkenntnisse offen war: „Sie [die alten Materialisten] beweisen die Beschränktheit dieser Auffassung, die Unmöglichkeit, sie als Schranke unseres Wissens anzuerkennen, die Starrheit vieler Begriffe bei den Anhängern dieser Auffassung. Und dieser Mangel des alten Materialismus steht außer Zweifel; Nichtverstehen der Relativität aller wissenschaftlichen Theorien, Unkenntnis der Dialektik, Überschätzung des mechanischen Gesichtspunktes – das warf Engels den früheren Materialisten vor.“ (W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 313)
In Konsequenz wurde der dialektische Materialismus aber auch als Determinismus verstanden, so schreibt der Spiegel über Lenin: „So proklamierte Lenin die „auf dem Determinismus aufgebaute Weltanschauung“ des dialektischen Materialismus, die allein „eine strenge und richtige Bewertung“ menschlichen Verhaltens gestatte und schließlich verhindere, „daß alles mögliche auf den freien Willen abgewälzt wird“. Willensfreiheit, so dekretierte Lenin, sei „eine unsinnige Fabel“.“ (Der Spiegel, 50/1966 vom 05.12.1966, zum Thema „Marxismus, Rebellion der Natur“)
Irgendwo im schlecht durchdachten Determinismus ohne menschenrechtlichen Unterbau war dann aber auch die mörderische Diktatur des Stalinismus bereits angelegt:
Der Mensch hatte keine Willensfreiheit, sondern sollte ausschließlich das Produkt der Gesellschaft sein. Genauso war also seine politische Meinung ausschließlich das Produkt der Gesellschaftlichen Umstände. Wenn aber Parteien nur den Willen von Bevölkerungsschichten ausdrücken, der Wille der Individuen aber auch nur das Produkt der Umstände ist, dann sind auch die Handlungen der Parteien nur das Produkt der gesellschaftlichen Umstände.
Eben diese gesellschaftlichen Umstände, hielten aber Marx & Co. für den gravierendsten Fehler, den sie bekämpfen wollten, so dass sie dementsprechend aber auch nicht mehr bereit waren, die Ansichten der politischen Gegner als Produkt des status quo zu respektieren.
Wenn ich diese Umstände hier so drastisch ausführe, dann aber nur deshalb, weil sich die Naturalisten und Deterministen eben doch die Frage gefallen lassen müssen, unter welchen Umständen der Determinismus in die Diktatur führt und unter welchen Umständen dies nicht der Fall ist.
Meines Erachtens sind dies zwei Umstände, die zusätzlich zum Determinismus für die Missachtung der Meinungen anderer Menschen relevant waren:
1. Der positive Fatalismus, also der Glaube, aufgrund bestimmter Gesetzmäßigkeiten den Verlauf der Zukunft zu kennen und diesen Verlauf auch gut zu finden.
2. Die Fehlvorstellung von der Freiheit ansich, die Vorstellung nämlich, dass der Determinismus die Freiheit aufhebe und aufgebe, dass Determinismus und Freiheit inkompatibel sind. Jeder, der dies glaubt, muss sich allerdings fragen lassen, inwieweit ihn ein echter Zufall im Gehirn oder ein Hirn als Lottomaschine denn zu einer freieren Person mache. Dies kritisierte Heydenreich schon 1793 an den Indeterministen, „…, bei denen Freiheit mit Zufall verwechselt ward, …“ (August Ludwig Christian Heydenreich, „Über Freiheit und Determinismus“, 1. A., Erlangen, 1793, Verlag Johann Jakob Palen, S. 46).
Aus der Perspektive Lenins und Stalins spielte es dann wohl auch keine Rolle mehr, ob sie den Menschen noch Freiheit bis in den letzten privaten Bereich wegnahmen, wenn die Menschen ohnehin nur einer Freiheitsillusion aufgesessen waren. Wenn man aber einen rein religiösen Freiheitsbegriff aufgreift und diesen dann mittels der Wissenschaft betrachtet, braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn am Ende nichts mehr davon übrig bleibt.
Von vornherein hätte Lenin daher von einem rationalen Freiheitsbegriff ausgehen sollen, von der subjektiv-perspektivischen Freiheit, von der Freiheit, die wir fühlen und wahrnehmen. Dies ist die Freiheit, auf die es ankommt, die wir brauchen. Diese Freiheit ist von der Frage Determinismus-Indeterminismus aber vollkommen unabhängig.
Und hätte er Wert gelegt auf diese Freiheit, dann hätte er vielleicht auch den Wunsch anderer Menschen nach Freiheit respektiert und hätte dann vielleicht auch ihre Ansichten respektiert: Die Ansichten, die zwar determiniert waren, die aber dennoch aufgrund individueller ethischer Wertung entstehen, die nicht durch eine (religiöse) universell richtige Ethik zu ersetzen sind, weil eine solch starre, quasireligiöse Ethik eine Illusion ist.
„…in seiner Studie „Ökonomik der Transformationsperiode“ empfahl er [Anm.: Bucharin] 1920 „außerwirtschaftliche Zwangsmaßnahmen“ wie Erschießen „als Methode, aus dem Menschenmaterial der kapitalistischen Epoche die kommunistische Menschheit herauszuarbeiten“. Anmerkung Lenins: „Ganz richtig. „“ (Der Spiegel, 52/87, 21.12.1987, S. 113)